Baustelle Bibliothekswesen (1) -- Bibliotheken als Orte nicht-hegemonialer Bildung (nicht nur) für Jugendliche

Publiziert im Heft 01-02/2018 der Zeitschrift „Volksstimme – Politik und Kultur : Zwischenrufe links“

Einleitung

„Ja, das Schreiben und das Lesen, ist nie mein Fach gewesen, denn schon von Kindesbeinen befasst‘ ich mich mit Schweinen“, singt der wirtschaftlich sehr erfolgreiche Schweinezüchter Kálmán Zsupán in der Operette „Der Zigeunerbaron“ von Johann Strauß (Sohn) und Ignaz Schnitzer. Der „Schweinefürst“ mag ob seiner Wohlhabenheit und seiner Stellung im Dorf durchaus glücklich und zufrieden gelebt haben, gebildet war er sicher nicht. Dazu fehlt ihm einfach eine Voraussetzung, nämlich das Lesen-Können.

Um das komplette Angebot einer Bibliothek in all ihrer Breite nützen zu können, ist Lesefähigkeit und Medienkompetenz unumgänglich. Davon sollte man sich aber nicht abschrecken lassen, denn Bibliotheken bieten heute so viele verschiedene Medienarten (Hörbücher, Filme, interaktive Spiele, Internet-PCs usw. an, dass auch auf diesem Weg Bildung erworben werden kann. Allerdings: Wer lesen kann, ist besser dran! Dass umgekehrt ein gut organisiertes und attraktives Bibliothekssystem sehr viel mit Lesefähigkeit und Medienkompetenz zu tun hat, beweist sich jedes Mal an den Ergebnissen der PISA-Tests und verwandter Studien, wo regelmäßig ProbandInnen jener Länder an der Spitze liegen, die auch gut ausgebaute und von einem großen Teil der Bevölkerung gern angenommene Bibliotheken haben.

Debakel für Österreich?

Wann immer wieder einmal eine Messung des „Bildungs“standes von Jugendlichen (aber auch Erwachsenen) à la PISA & Co. veröffentlicht wird, erhebt sich im österreichischen Blätterwald ein lautes Tosen: „Das nächste Debakel für Österreich“ titelte die „Kronen-Zeitung“ am 6.12.2016, und auch die ach so seriöse „Presse“ bezeichnete das PISA-Ergebnis als „nicht akzeptabel“. Ähnliches ereignet sich in Deutschland, in Italien und vielen anderen europäischen Ländern. Eine Ausnahme bildet regelmäßig Südtirol, das sowohl auf ein achtjähriges Gesamtschulsystem als auch auf ein gut ausgebautes Bibliothekswesen verweisen kann.

Die Politik verfällt dann regelmäßig in hektisches Treiben und versucht mit Hilfe von Expert*innen rasch Programme und noch mehr Tests zu ersinnen, mit denen ebenso zügig der vermeintliche Bildungsstand gehoben werden könne. Danach tritt langsam eine Phase der Beruhigung ein, in der vorsichtig-kritische Geister die Frage in den Raum stellen, ob denn die blitzartig erstellten Analysen wirklich so aussagekräftig seien, während konservative wie linke Bildungsfachleute so weit gehen zu erkunden, ob denn da wirklich „Bildung“ (im Sinne der Aufklärung) abgefragt werde oder nicht doch nur Faktenwissen und mathematische wie Lese-Kompetenzen.

Bildung – Ausbildung – Erziehung – Kompetenz

Über Bildung lässt sich trefflich streiten, zu ideologisch aufgeladen ist der Begriff. Da wäre zuerst einmal zu klären, wie sich Bildung zu Ausbildung verhält. Der herrschende Bildungsbegriff – also der Bildungsbegriff der Herrschenden – bezieht sich eher auf Ausbildung und damit Abfrag- und Überprüfbares: „Kennst Du den Satz des Pythagoras? Kannst Du eine Gleichung mit zwei Unbekannten lösen? Wie verteilen sich laut Gregor Mendel die Chromosomen auf Nachkommen? Kannst Du das Wort ‚Blumentopferde‘ auf Anhieb fehlerfrei und richtig betont lesen?“

Dann müsste über das Verhältnis von Bildung und Erziehung gesprochen werden. Während Bildung seit dem Aufklärungszeitalter mit den Kategorien Selbstdenken, Selbstbestimmung und Selbstaneignung assoziiert wird (nicht-hegemoniales Lernen), zielt Erziehung auf das wechselseitige Verhältnis zwischen einer/m Erzieher*in und einer/m zu Erziehenden, mit der Absicht, die zu Erziehenden als diejenigen, die an Erfahrung, Reife und Wissen ärmer sind, gemäß bestimmter vorgegebener (also hegemonialer) Erziehungsziele auf das Niveau der Erzieher*innen hinaufzuheben.

Hinzu kommt noch der modernistische Kompetenzbegriff (z.B. Lesekompetenz). Kompetenzen zeigen sich in der positiven Bewältigung einer spezifischen Anforderung. Sie sind in einer konkreten Herausforderung bewiesene Fähigkeiten und setzen sich aus Ressourcen, Potenzialen, Kenntnissen und Fertigkeiten zusammen. Das zeigt, dass Kompetenzen sowohl im formalen und nicht-formalen als auch informellen Lernen erworben werden können.

Über all diese verschiedenen Begrifflichkeiten sind viele Bücher veröffentlicht worden. Im Zentrum dieses Artikels soll ein Bildungsbegriff stehen, der die „allseitig gebildete Persönlichkeit“ als Ziel hat, d.h. größtmögliche individuelle Entwicklung in Freiheit verbunden mit weitestgehender Verantwortung für die Gesellschaft, in der man lebt.

Ab wann ist frau/man gebildet?

Bildungsentwicklung und der Zustand des Gebildet-Seins können als zwei vom Beginn des Lebens aufeinander zulaufende Linien dargestellt werden, deren Abstand im Verlauf eines Lebens unterschiedlich groß sein kann, die sich aber erst im Unendlichen treffen. Der Prozess der Bildung ist also nie abgeschlossen und wird nur durch den Tod beendet. Wie stark die Annäherung der Linien zueinander verläuft, ist von vielerlei Bedingungen abhängig, letztendlich aber immer dem persönlichen Wollen geschuldet. Der Gesellschaft obliegt es, die Bedingungen so zu gestalten, dass das Wollen sich je nach individuellen Fähigkeiten und Begabungen entwickeln kann, d.h. die optimalen Bildungseinrichtungen – Kindergärten, Schulen, Bibliotheken, Erwachsenenbildungseinrichtungen – zur Verfügung zu stellen, aber auch die Schul- und Arbeitszeit so zu regeln, dass möglichst viel Freiraum für selbstgesteuerte Bildungsprozesse (z.B. in Bibliotheken) bleibt.

Bibliotheken als Orte der Bildung

Wenn es einen Topos gibt, der symbiotisch mit dem Begriff Bildung im oben genannten Sinn verwoben ist, dann ist es die Bibliothek. Bibliotheken als die Orte, wo Wissen gespeichert, systematisiert und aufbereitet wird, waren immer auch den Herrschaftsverhältnissen unterworfen. Dementsprechend können sie ihre wahre Wirkmächtigkeit auch nur unter den Bedingungen einer umfassenden Demokratie entfalten.

Die Voraussetzung für das Entstehen von Archiven und Bibliotheken war die Entwicklung von Schrift. Vorher waren sie nicht notwendig, da das – zum größten Teil gemeinsame – Wissen ausschließlich mündlich weitergegeben werden konnte. Das ist an und für sich eine Binsenweisheit und braucht nicht weiter erläutert zu werden.

Interessanter ist, dass das Entstehen der ersten Schriften sich parallel zur sich über Tausende von Jahren erstreckenden „neolithischen Revolution“ vollzog, also parallel zum Übergang vom gemeinschaftlichen Eigentum der Horde oder des Stammes zum Privateigentum an Produktionsmitteln, also des Privatbesitzes an Grund und Boden und Viehherden. Schrift – als gegenüber der mündlichen Überlieferung dauerhafteres und exakteres Medium von Überlieferung, Wissen und Literatur – entstand also zur gleichen Zeit wie der Übergang von der Gesellschaft der Jäger und Sammler zu Ackerbau und Viehzucht, der Entstehung der ersten Klassen-gesellschaften und der ersten Gründungen von Staaten. Privateigentum musste be“schrieben“, staatliche Verordnungen und Verwaltungsakte schriftlich niedergelegt werden. Es ist daher nachvollziehbar, dass die ersten in Bibliotheken und Archiven gespeicherten „Dokumente“ Aufstellungen über Besitztümer bzw. Handels- und sonstige Verträge sowie Gesetze waren.

Bibliotheken als Machtfaktor

Archive und Bibliotheken begannen also als Erscheinungsformen des Klassenstaates zu existieren, Wissen wurde zu Herrschaftswissen, folgerichtig musste der Zugang zu dem in ihnen gesammelten Wissen auf die Eliten begrenzt werden, was einerseits durch die Beschränkung des Schreibens und Lesens auf wenige Personen bewirkt wurde, andererseits durch die Platzierung der Dokumente in nicht öffentlich zugänglichen Gebäuden.

An diesen Verhältnissen hat sich über viele Jahrtausende nicht viel geändert. Bis zum Ende des Mittelalters blieben sowohl Bildung als auch Zugang zum Wissen auf ganz wenige Privilegierte beschränkt. Dies lässt sich auch an der engen räumlichen Verbindung zu weltlichen und später auch kirchlichen Zentren der Macht ablesen. Erst mit dem langsamen Aufkommen des Bürgertums in der Renaissance wurde es notwendig, den Zugang zu Wissen etwas zu erweitern – es entstanden Universitäten und mit ihnen die ersten Bibliotheken, die nicht an Fürstenhöfen und Klöstern situiert waren. Immer noch aber war Bildung ausschließlich Bildung der Eliten, für das Volk war solche nicht vorgesehen – und ökonomisch auch nicht nötig.

Erste Bildung für die unteren Klassen

Das Entstehen von Manufakturen und ersten Industrien brachte das erste Mal die Notwendigkeit mit sich, auch den unterdrückten Klassen Basiskenntnisse in Lesen, Schreiben und Rechnen zu vermitteln, was eine Verpflichtung zum Schulbesuch für alle erforderlich machte. Dies führte in allen Staaten, deren Gesellschaftsform sich vom Feudalismus zum Frühkapitalismus wandelte, zu gespaltenen Schulsystemen: Basisbildung für das Volk, erweiterte Bildung für die herrschende Klasse und für die, deren Aufgabe es sein sollte, die Herrschaftsverhältnisse zu stützen und zu sichern.

Die – ökonomisch notwendig gewordene – Verbreiterung des Zugangs zu Wissen war für die Eliten allerdings immer ein zweischneidiges Schwert; einerseits erforderlich, um die Wirtschaft weiter zu entwickeln, andererseits gefährlich, weil mehr Bildung auch zu mehr Einsicht in die Ungerechtigkeit der Klassengesellschaft und vor allem zu mehr Weitsicht bezüglich der Möglichkeiten, diese zu verändern, erlaubte. Folgerichtig entwickelten sich, unter aktiver Beteiligung der unterprivilegierten Schichten, nun neben den Bibliotheken der Elite sogenannte Volksbüchereien. In stärker demokratischen Gesellschaften wie in England, den Niederlanden und den skandinavischen Staaten wurden daraus die „Public Libraries“ (Mischformen von Volksbüchereien und wissenschaftlichen Bibliotheken), in den meisten Fällen durch Gesetze geregelt und abgesichert, in Österreich und Deutschland etwa besteht die organisatorische Trennung zwischen „öffentlichen“ oder „Volks“büchereien einerseits und wissenschaftlichen Bibliotheken andererseits bis heute.

Analoges und digitales Lesen

Lesen hat unser Gehirn nachhaltig geformt und ist und bleibt ein Akt der Selbstermächtigung. In einer Welt, die alles nur mehr in Häppchen serviert, kann das aber recht mühsam werden, denn Lesen macht erst dann Sinn, wenn Informationen mit bereits vorhandenem Wissen verknüpft werden.

Analoges – auch „Deep reading“ bezeichnetes – Lesen und digitales Lesen unterscheiden sich voneinander. Der klassische Buchtext erfordert sequentielles Lesen, d.h. der Text wird linear als Ganzes gelesen. Dem gegenüber steht die nicht-lineare Hypertextualität des World Wide Web, die punktuelles Lesen nach sich zieht; der Text – eigentlich: die Texte – einer Webseite werden eher sprunghaft aufgenommen. Durch die große Anzahl an Links kann man sich sehr leicht in den Untiefen des WWW verlieren. Außerdem muss jeder Informationsbrocken versuchen, die Aufmerksamkeit der Lesenden rasch auf sich zu ziehen, was einer inhaltlichen Verkürzung Vorschub leistet – ein Phänomen, dass auch im Film oder der Musik zu beobachten ist.

Digitales Lesen muss mit anderen Lesestrategien erschlossen werden. Inhalte auf dem Bildschirm werden eher gescannt als gelesen. Daher erfordert Lesen an jeglichem Monitor wesentlich mehr Disziplin als Lesen vom Papier. Gerade diese Disziplin wird aber durch die Ablenkung der gleichzeitigen anderen Informationen am Bildschirm besonders gestört. Darüber hinaus haben Forschungen ergeben, dass wir digital Aufbereitetes zwar schneller lesen, aber länger brauchen um das Gelesene zu verarbeiten.

Exkurs

Viel zu wenig beachtet wird beim digitalen Lesen meiner Meinung nach die Gefahr, die sich daraus ergibt, dass alles was online gelesen und konsumiert wird auch überwacht und abgespeichert werden kann. Jedes Lesezeichen, das man am E-reader setzt, jeder markierte Satz am Bildschirm, jeder Link, den man öffnet, und jedes Wort, das man im Online-Lexikon nachschlägt, verfeinert das elektronische Röntgenbild, das von jeder/m angelegt werden kann (und vielleicht schon angelegt wird). Überwachung dieser Art ist beim analogen Lesen weniger leicht möglich.

Verlust der Schrift- und Lesekultur?

Die Warnungen, die Menschen würden das Lesen verlernen, haben sich eindeutig als falsch erwiesen. Es ist sogar eine neue Art des Lesens hinzugekommen. Die digitalen Medienwelten bieten Lesestoff zu Hauf. Das Hypertext-Lesen ist nicht minder anspruchsvoll als das lineare Lesen. Expert*innen meinen, dass die Menschheit in Bezug auf das Lesen zur Zeit die größte Umwälzung seit der Erfindung der Schrift erfährt, womit sich gravierende Veränderungen bei der Fertigkeit ergeben, die als bedeutendste – evolutionär nicht angelegte – humane Kulturleistung erachtet wird.

Wirkliche Einbußen erleidet die Schriftkultur. Vom Briefe schreiben weiß man das schon lange. Aber auch sonst macht kaum jemand mehr schriftliche Notizen, statt Tagebüchern wird ein Blog geführt, Kurzmitteilungen sendet man über’s Handy, und dort wird auch die Einkaufsliste gespeichert. Ob Stammbücher heute noch angelegt werden, entzieht sich völlig meiner Kenntnis.

Wer liest, muss nicht alles glauben

Die wirkliche Grenze verläuft also nicht zwischen digitalem und analogem Lesen, sondern – wie auch schon bisher – zwischen Lesen und Nichtlesen. Dies ist das am meisten Besorgnis erregende Ergebnis von Studien zur Lesekompetenz. Wie PISA, PIRLS und PIAAC. Denn Personen mit besonders niedriger Lesekompetenz haben keineswegs nur Schwierigkeiten mit gedruckten Texten, mit digitaler Information kommen sie noch schlechter zurecht. Studien bezüglich der Reaktion des Nervennetzwerkes auf Lesesituationen haben darüber hinaus ergeben, dass ungeübte Leser*innen kaum in der Lage sind, unsinnige von sinnvollen Satzkombinationen zu unterscheiden. Es ist nicht schwer sich auszumalen, was das im Zusammenhang mit Lebensbewältigung bedeutet. Besonders dramatisch sind solche Ergebnisse in Bezug auf die Mündigkeit der Menschen bei der demokratischen Teilhabe am politischen Geschehen.

Resümee

Bibliotheken könnten die perfekten Orte für selbstgesteuertes Lernen, freiwilligen Wissenserwerb und nicht gelenkte Persönlichkeitsentwicklung für Kinder, Jugendliche und Erwachsene sein, wenn sie denn nur von mehr Menschen und vor allem öfter genützt würden. Dass in Österreich nur 9% der Bevölkerung – und unter diesen besonders wenige Jugendliche – die Öffentlichen Büchereien (Volksbüchereien) wenigstens einmal im Jahr aufsuchen, ist ein viel größeres bildungsmäßiges Armutszeugnis als das Abschneiden bei PISA & Co. Warum das so ist und was die Politik unternehmen müsste um Bibliotheken besser zu organisieren und auszustatten, soll im zweiten Artikel der Serie „Baustelle Bibliothekswesen“ im April-Heft der Volksstimme erörtert werden.